Krankheit

Überlegungen zu unerfreulichen Aussichten für den eigenen Körper haben Franz Kafka schon von Jugend auf begleitet. Seine Befürchtungen, nur unzulänglich für das Leben ausgestattet zu sein, wurden von Schlaflosigkeit, Kopfschmerzen, Schwächegefühlen und Abgespanntheit genährt.
Schutz davor suchte er bei den Naturheilkräften: Aufenthalt an frischer Luft auf Spaziergängen und Ausflügen, in Ferien- und Luftkurorten, bei vegetarischer Ernährung, Gymnastik nach bewährten Methoden, Abhärtung und Sport (Schwimmen, Rudern, Tennis). Das bestärkte zugleich seine Abneigung gegenüber der Schulmedizin und ihren Medikamenten. Allerdings hielt Kafkas zarte Konstitution auf Dauer die Belastung der eigenen Lebensweise nicht aus, bei der seine körperliche und seelische Gesundheit insbesondere durch die Unvereinbarkeit von Beruf und Berufung, von Amt und Schreiben Schaden nahm. Die hypochondrischen Befürchtungen verdichteten sich mit der Zeit zu einer ernsthaften Krankheit, gefördert von den Krisenzuständen seines Ringens um die Ehe und den angespannten Beziehungen im liebevoll erdrückenden Familienkreis. Im Herbst 1917 kam bei dem Vierunddreißigjährigen das Leiden voll zum Ausbruch und sollte für die verbleibenden sieben Jahre zum Mittelpunkt seines Lebens werden. Kafka sah seine Krankheit nicht lediglich in ihrer psychophysischen Gestalt; für ihn war sie eine gegebene Unausweichlichkeit, der Kulminationspunkt des bisherigen Lebenskampfes mit den „Unmöglichkeiten“, die er unter Aufbietung aller Kräfte zu überwinden suchte. Die Krankheit setzte seinen verzweifelten Versuchen, eine Ehe zu schließen, ein Ende, löste den Dualismus zwischen Amt und Schreiben, zwang ihn, die Genesung zu suchen, an die er selbst nicht glaubte. Die über Jahre hinweg durchdachte und in zahllosen tiefen, seherischen Texten beschriebene Krankheit ging bei ihm aus dem Leben ins Werk als dessen unglaublich wahrer, integrierender Bestandteil über.

Ausbruch der Krankheit

Lahmanns Sanatorium Weisser Hirsch nahe Dresden – Sommer 1903
© Archiv Klaus Wagenbach, Berlín
Der Ausbruch der Krankheit Mitte August 1917 bedeutete eine jähe Wende in Kafkas Leben. Im Kleinseitner Schönborn-Palais (heute US-Botschaft), wo sich Kafka im Frühjahr eine kühle Wohnung gemietet hatte, meldete sich die Tuberkulose, gegen die er dann fast sieben Jahre lang vergeblich angekämpft hat. Die Krankheit änderte Kafkas Lebensweise. Sie zwang ihn, die meiste Zeit außerhalb von Prag in in- oder ausländischen Sanatorien zu verbringen. Wiederholt musste er bei der Versicherungsdirektion um Genesungsurlaube und deren unablässige Verlängerungen vorstellig werden. Sein Pensionsantrag wurde mehrfach abgelehnt – Kafka galt dank seiner hervorragenden Fähigkeiten als unabkömmlicher Beamter und wurde sogar während seiner Krankheit befördert. Dieses Leiden wurde einer der vornehmlichsten Gründe für die Auflösung seiner zweiten Verlobung mit Felice Bauer und für den endgültigen Abbruch ihrer Beziehungen. Kafka hat das Phänomen seiner Krankheit, die er nicht als bloße physische Erscheinung auffasste, in sein Geschick einbezogen. Die Krankheit war seiner Meinung nach die Endphase eines Kampfes, den widersprüchliche Kräfte in ihm austrugen: die Kräfte des Guten und des Bösen, in die auch Felice involviert war.