Körperliche Verfassung und Krankheitsanzeichen

Franz Kafka litt von Jugend auf unter dem Gefühl einer gewissen körperlichen Minderwertigkeit, unter dem Gefühl, physisch nicht hinlänglich für das Leben ausgestattet zu sein. Diese Empfindung wurde vor allem von seinem kräftigen, vor Gesundheit strotzenden Vater Hermann Kafka genährt. Sich in dessen Anwesenheit entkleiden zu müssen, z.B. im Schwimmbad, empfand Kafka schon in den Jugendjahren als beschämend.
Gefühle von Mattigkeit und physischer Unzulänglichkeit, Unruhe, panische Furcht vor Lärm, Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit und verschiedene echte oder eingebildete Krankheitssymptome beunruhigten Kafka schon seit den Studentenjahren. Die Schuld daran schrieb er einerseits der eigenen Neigung zur Hypochondrie zu, anderseits seiner Neurasthenie. In angespannten Krisensituationen traten bei ihm Zustände ein, die nicht weit von einem Nervenzusammenbruch entfernt waren, oder aber Selbstmordgedanken oder -stimmungen. In diesem höchst unübersichtlichen Komplex von psychophysischen Beschwerden kam seinem Schreiben, das er immer mehr als primäres, lebenswichtiges Bedürfnis empfand, eine komplizierte Stellung zu.
Kafkas erste Erholungsreisen führten ihn während der Ferien mit den Eltern in die Sommerfrische. Die Wahl des Ferien- oder Urlaubsorts galt in der deutschen Prager Gesellschaft als Statussymbol. In dieser Hinsicht teilte sich die deutsche Gemeinschaft in zwei Lager. Familien aus besser gestellten Schichten verbrachten ihre Ferien in ausländischen Kur- oder Erholungsorten, vorwiegend irgendwo am Meer. Mittelständische Familien, zu denen auch die Kafkas zählte, verbrachten ihre Ferien in der „Sommerfrische“, d.h. in von Privat für die Urlaubsdauer angemieteten Wohnungen nicht allzuweit von Prag. Das waren meist bekannte Ferienorte an den Flüssen Moldau, Beraun oder Sazava. Als Gymnasiast verbrachte Kafka seine Sommerferien in Roztoky bei Prag, später hielt er sich an freien Tagen mit den Eltern in den unweiten Ferienorten Černošice, Radešovice oder Dobřichovice auf. Während seines Hochschulstudiums war er des öfteren in Liběchov; besonders gern fuhr er nach Triesch zu seinem Onkel Siegfried Löwy, einem alten Junggesellen und Arzt. Während seiner ersten Berufsjahre lagen die Ziele seiner Erholungsreisen in Nordwestböhmen (Tetschen/Děčín) und im Böhmerwald (Spitzberg/Špičák).
Während der letzten Studienjahre hat Kafka in Kurorten Erholung von seiner körperlichen Abgespanntheit gesucht. Zwei Jahre nacheinander, 1905 und 1906, erstmalig in den Ferien vor den Abschlussexamen an der Universität, zum zweiten Mal vor Antritt seiner einjährigen Praxis, war er in Bad Zuckmantel (heute Zlaté Hory) in Mährisch-Schlesien.

Zuckmantel

Kafkas Abneigung gegen die klassische Medizin und sein Interesse für natürliche Heilmethoden führten ihn wiederholt nach Zuckmantel. Im Sanatorium in Zuckmantel (jetzt Zlaté Hory), auf 500 m über dem Meeresspiegel im Bergland von mährisch Schlesien gelegen, pflegte man natürliche von Vincent Priessnitz dort vor einigen Jahren eingeführte Heilmethoden. Krankheiten wie Anämie, Rheumatismus, Gicht, Diabetes und Fettleibigkeit wurden dort ebenso behandelt wie körperliche und psychische Erschöpfung. Zur Anwendung kamen Wasser- und Elektrotherapie kombiniert mit Gymnastik, Spaziergängen und einer kontrollierten Diät.
Das Sanatorium war von Frühling bis Herbst geöffnet und konnte in seinen 170 Zimmern 220 Patienten beherbergen, von denen die meisten aus Böhmen und preussisch Schlesien kamen. Besonders Juden hielten sich dort gerne auf, weil sie keine Diskriminierung zu befürchten hatten. Das Sanatorium konnte sich mit einer eigenen Bibliothek aus 2000 Bänden und Promenadekonzerten rühmen, die auf dem Gelände stattfanden. Kafka begab sich dort zum ersten Mal von 3. bis 27. August 1905 in Behandlung. Bei diesem ersten Aufenthalt machte Kafka seine ersten sexuellen Erfahrungen mit einer Patientin, die er Jahre später in seinem Tagebuch beiläufig erwähnte. Kafkas zweiter Aufenthalt in Zuckmantel war etwas länger, vom 23. Juli bis zum 29. August 1906.