Familie

Die Familie umgab Franz Kafka mit aller erdenklichen Liebe und Sorge sowie mit mehr oder weniger unverhohlener Bewunderung für sein außerordentliches Talent. Diese Sorgfalt wurde von Kafka jedoch als bedrückende Einengung empfunden. Er sehnte sich danach, selbständig zu werden, den einschnürenden Kreis seines Junggesellenlebens zu sprengen, zu heiraten, eine Familie zu gründen und Kinder zu haben. Dabei gingen seine Vorstellungen von Leben, Familie, Ehe und Beruf mit denen seiner Eltern, vor allem seines Vaters, weit auseinander, so dass sich zwischen dem Vater und Franz Missverständnisse und Verständnislosigkeit häuften.

Spricht Kafka von „Prag“ als einem beengenden Kreis, dem er vergebens zu entkommen suche, projiziert sich in diese Metapher primär seine Situation im Mikrokosmos der Familie, ferner all das, was außerhalb von Haus und Familie seine Lebenslage in Prag ausmachte.
Eine Ehe schließen, ein Kind zeugen, das Glück eines Familienvaters erleben – also Dinge erlangen, welche die meisten Menschen relativ leicht erreichen – das erschien Kafka als schwerste Sache im Leben. Er fühlte sich eingekerkert in seine Junggeselleneinsamkeit und die Tristesse eines Lebens, das keine Fortsetzung in einem Kind finden sollte. Kafka sah sich außerstande, das Unvermögen, diese seine Vorstellung vom Leben zu verwirklichen, durch oberflächliche Bindungen an seine Umgebung und durch ein Leben im Kreis von Familie, Verwandten, Freunden und Mitarbeitern zu betäuben. Alle seine Versuche, den ihn einengenden Kreis zu durchbrechen, sind gescheitert.
Als stark introvertierter Mensch war Kafka über die Maßen selbstkritisch. Erbarmungslos bekennt er mit einer steten Neigung zur Selbstunterschätzung seine Fehler, analysiert und betont sie. Er war sich seiner schriftstellerischen Fähigkeiten bewusst, blieb aber im Hinblick auf das eigene Schreiben ein Maximalist, so dass nur wenig vom Geschriebenen vor seinen eigenen Augen Gnade fand.
Die Diskrepanz zwischen dem, was die Welt Kafka zu bieten hatte und dem, wonach er mit allen Fasern seines Seins strebte, wurde zur steten Quelle der Unruhe, die in Krisenmomenten eine geradezu neurasthenische Form annahm und bis zur Handlungsunfähigkeit führte. Dabei wusste sein geniales analytisches Talent aus ganz gewöhnlichen Alltagssituationen existentielle Dramen zu schaffen.