Zürau – 1917
Die ersten sieben Monate seiner Krankheit verbrachte Kafka mit Unterbrechungen in Zürau/Siřem bei Podersam/Podbořany (Westböhmen) bei seiner Schwester Ottla, die dort eine Zeitlang das Familiengut ihres Schwagers Karl Hermann bewirtschaftet hat. Auf Kafkas Pensionsgesuche reagierte die Versicherung mit wiederholter Verlängerung seines Genesungsurlaubs. Überraschend gut ertrug er den Winter in Zürau, die harten Lebensbedingungen in der Kälte eines komfortlosen Bauerhauses. Er schlief bei 8°C unter Null bei offenem Fenster, und ehe er sich morgens waschen konnte, musste er die Eisschicht von der Waschschüssel entfernen. Dabei hatte er nicht einmal Schnupfen. Kafka hackte Holz und arbeitete im Frühjahr auf dem Feld, lebte sich unter den Bauern ein und gewöhnte sich an die ländliche Lebensweise. Seine Krankheit erfuhr dabei aber keine spürbare Besserung. Jetzt begann ein langwieriger und hartnäckiger Kampf, in dem kurze Augenblicke voll Ausgeglichenheit und Zuversicht mit Zeiten voller Zweifel und Hoffnungslosigkeit abwechselten.
Schelesen – 1918
Dreimal binnen eines Jahres war Kafka in der Pension Stüdl in Schelesen/Želízy bei Mělník. Zwar war er dort nicht so zufrieden wie bei seiner Schwester in Zürau, doch verschlechterte sich sein Zustand nicht. Außer einem leichten Husten hatte er keine Beschwerden. Sogar im Dezember lag er auf der Veranda, las (durchweg tschechische oder französische Literatur) oder lernte Hebräisch. In Schelesen machte er die Bekanntschaft seiner zweiten Verlobten Julie Wohryzek. Bei seinem dritten Aufenthalt dort lernte er Minze Eisner (1901-1972) kennen, ein jüdisches Mädchen aus Teplitz-Schönau, das sich dort von einer langwierigen Krankheit erholte. Mit Minze stand er noch lange danach in Briefwechsel.
Meran – 1920
Nach Schelesen erwartete Kafka in der Zeit von April bis Juni 1920 eine Behandlung in einem ausländischen Sanatorium, und zwar im norditalienischen Ferienort Meran. Die Direktion der Unfallversicherung bewilligte Kafka aufgrund des ärztlichen Befunds, der ein beträchtlich fortgeschrittenes „Lungeninfiltrat“ konstatierte, Urlaub aus Gesundheitsgründen. An diesen Genesungsurlaub hängte Kafka noch seinen regulären Jahresurlaub. Nach den ersten Tagen verließ er das kostspielige Hotel und quartierte sich in der kleinen, aber gemütlichen Pension Ottoburg ein. Dort hatte er ein Balkonzimmer mit Aussicht auf den Garten, mitten im Grünen, so dass vor seinen Augen Vögel flogen und Eichhörnchen kletterten. Von Meran aus nahm er den regelmäßigen Briefwechsel mit Milena Pollaková-Jesenská auf, die seinen Heizer übersetzt hatte und sich an weitere Prosatexte machen wollte. Dabei beobachtete Kafka seine Mitbewohner sehr genau und schilderte den Freunden in seinen Briefen einzigartige Erlebnisse.
Matliary – 1921
Nach der Rückkehr aus Meran Ende Juni 1920 blieb Franz Kafka nicht lange in Prag. Nach einem Arztbesuch, als ihm Ottla im Herbst eine weitere Verlängerung des Genesungsurlaubs bei der Versicherung erwirkt hatte, musste er sich entschließen, welches Sanatorium er zur Weiterbehandlung aufsuchen würde. Schließlich entschied er sich für den Luftkurort Matliary in der Hohen Tatra/Slowakei, wo er in der Villa Tatra von Dezember 1920 bis August 1921 acht Monate zubrachte. In diesem 900 m ü.M. gelegenen Hochgebirgssanatorium versuchten die Ärzte nach Kräften, seine fortschreitende Tuberkulose zu bekämpfen. der Patient ruhte auf dem Balkon oder im Waldpavillon und erhielt eine kräftigende Diät. Hier hat sich Kafka mit den Dauerpatienten eingelebt. Mit einigen, namentlich mit dem Medizinstudenten Robert Klopstock, einem ungarischen Juden, schloss er Freundschaft, die bis zum Ende seines Lebens hielt. Über andere schickte er recht kuriose Nachrichten nach Prag.
Spindelmühle – 1922
Die zweite Jahreshälfte 1921 und die erste Jahreshälfte 1922 brachte Franz Kafka größtenteils in Prag zu. Seine berufliche Arbeit wurde von häufigen Arztbesuchen und Genesungsurlauben unterbrochen. Im Februar war er unter ärztlicher Aufsicht in Spindelmühle/Riesengebirge zur Erholung. Er fühlte sich matt und abgespannt, widmete sich aber desungeachtet in einem Mindestmaß dem Wintersport, offenbar eher als Zuschauer, weniger als aktiver Sportler. Er erlebte hier eine „kafka’sche“ Geschichte mit seinem Namen. In jener Zeit begann er, Das Schloss zu schreiben.
Krise in Planá – 1922
Die drei Sommermonate des Jahres 1922 verbrachte Franz Kafka in der Absicht, sich zu erholen und am Roman Das Schloss weiterzuschreiben, im südböhmischen Planá nad Lužnicí. Planá war damals dank der vermeintlichen Heilwirkung des Wassers im Fluss Lužnice gleich nach Karlsbad der meistbesuchte Ferienort Böhmens. Zu seinen Besuchern gehörte auch die bessere Prager Gesellschaft, den Präsidenten der Republik eingeschlossen. Kafka hatte gehofft, Ruhe für seine Arbeit bei Schwester Ottla zu finden, die hier für ihre Familie den ersten Stock eines Privathauses angemietet hatte. In Wirklichkeit war er aber ins Epizentrum des Lärms geraten. Von früh bis spät lärmten hier Nachbarn, das Sägewerk, der nahe Rangierbahnhof, dazu Kinder unter den Fenstern. Die Wirtin trug auch nicht gerade zu einer ruhigen Atmosphäre bei. Das Resultat waren bei Kafka Nervenkrisen, vier „Zusammenbrüche“, die er in seinen Briefen beschrieb. In Planá fiel während des Augusts 1922 auch die Entscheidung, nicht mehr am Schloss weiterzuschreiben. Den größten Teil dieses misslungenen Urlaubs verbrachte Kafka bereits als Pensionär: Er war zum 1. Juli 1922 in den Ruhestand versetzt worden.
Berlin – 1923
Aus Planá nad Lužnicí zurückgekehrt, glich Kafkas Gesundheitszustand für etwa ein Jahr der Waffenruhe vor einer Entscheidungsschlacht. Obgleich er zumeist bettlägerig war und nur wenig ausging, war sein Zustand subjektiv erträglich, doch hegten seine Ärzte Befürchtungen. Kafka spielte mit dem Gedanken, dass sich alles einrenken würde, falls es ihm gelänge, nach Palästina auszuwandern und dort ein neues Leben zu beginnen. Als Zwischenstation ins Land der Väter schwebte ihm Berlin vor, in seinen Vorstellungen eine Stadt, die im Gegensatz zu Prag ein gesünderes und freieres Leben verhieß. Diese Gedanken sollten schon bald ihre Verwirklichung erfahren, allerdings in einer recht finsteren Form.
Im Juli 1923 reiste Kafka zur Familie seiner ältesten Schwester Elli nach Müritz an der Ostsee. Dort lernte er Dora Diamant kennen, die als „Helferin“ in einer Ferienkolonie für ostjüdische Kinder arbeitete; dort kam er auch erneut mit chassidischem Judentum in Berührung. Kafka und Dora beschlossen ein gemeinsames Leben in Berlin. Nach der Rückkehr nach Prag und einem einmonatigen Aufenthalt mit Ottla in Schelesen zog Kafka im September 1923 „mit letzter Kraft“ nach Berlin um und gründete dort zusammen mit Dora einen Hausstand in einer Zeit voller Revolutionsstimmung, Straßenschlachten und Hyperinflation, in der die Preise „wie die Eichhörnchen“ in die Höhe kletterten. Sie lebten von Kafkas Rente, die er sich aus Prag überweisen ließ, wobei er noch Einbußen durch den unvorteilhaften Wechselkurs der tschechoslowakischen Währung hinnehmen musste. Aus Not wechselte das Paar dreimal die Wohnung. Da er nicht einmal genügend Geld für Briefporto erübrigen konnte, schrieb Kafka seine Postkarten bis auf den letzten Millimeter voll. Ihr Essen wärmten sie über Kerzenstummeln auf, da Brennspiritus unerschwinglich war. Monat für Monat musste Kafka der Arbeiter-Unfallversicherung Meldung erstatten, dass er noch am Leben war. Zwischen Weihnachten 1923 und Neujahr verschlechterte sich sein Zustand rapide, Ende Februar 1924 war er bereits kritisch. Schließlich kam der Onkel Siegfried Löwy und rang Kafka die Zusage ab, zur Behandlung nach Österreich in ein Sanatorium zu kommen, in dem der Onkel einen Bekannten hatte. Mitte März 1924 geleitete Max Brod Kafka nach Prag. Dora blieb vorerst in Berlin.