Erotische Jugenderlebnisse
Die erste Frau, der man in Kafkas Biographie begegnet, ist Selma Kohn, Postmeisterstochter in Roztoky bei Prag. Kafka lernte sie 1900 kennen, als er noch in seiner Gymnasiastenzeit mit den Eltern bei den Kohns in Roztoky in der Sommerfrische war. Oft saß er mit ihr in der lieblichen Landschaft auf einem Hang über der Moldau und las ihr aus Nietzsches Also sprach Zarathustra vor. Am 4. September 1900 schrieb der Siebzehnjährige in ihr Poesiealbum mit gewählten Worten eine Überlegung darüber, dass Worte nicht fähig sind, mit dem magischen Zauber der Erinnerung zu wetteifern. Das ist der zweitälteste erhaltene Beleg von Kafkas literarischem Schaffen (der erste war eine kurze Eintragung ins Poesiealbum seines Mitschülers Hugo Bergmann). Zugleich sollte es wohl auch ein eleganter Abschied sein. Schon nach zwei Jahren war der Zauber verflogen und Kafka schrieb an einen Freund, Selma sei ihm „gleichgültig“.
Franz Kafka lebte, wie die Erinnerungen seiner Schulkameraden zu berichten wissen, länger als die übrigen Burschen seines Alters im Zustand von Unschuld und Desinteresse an Dingen, die das andere Geschlecht betrafen. Sein erwachendes Interesse an Frau und Weiblichkeit belegen einige Stellen in seinen Tagebüchern.
Wie bei Kafka erotisches Sehnen und Sexualerlebnis mit Angst verkoppelt waren, bezeugt die Erinnerung an das Erleben der Studentenjahre in einem Brief an Milena. Die Breite und Detailliertheit von Erzählung und Kommentar sprechen für die Bedeutung des Erlebnisses. In die Nähe von Frauen gelangte Kafka insbesondere auf den nächtlichen Streifzügen mit Kameraden in den Studenten- und ersten Berufsjahren. Die endeten in jenen Jahren der „Doppelmoral“ in Nachtlokalen mit Damenbedienung, z.B. im Trocadero, Eldorado oder in dem durch Werfel zu Berühmtheit gelangten Bordell Goldschmied (Gogo). Laut Aussagen von Freunden hat Kafka diese Besuche als ein stiller, schweigsamer und aufmerksamer Beobachter erlebt. Dem Anschein nach wurde seine erotische Phantasie eher vom Anblick einer Frau in völlig alltäglichen Situationen angeregt, etwa bei der Arbeit.