Tschechin, Christin, Franz Kafkas zweite große Liebe, Adressatin von Kafka-Briefen, die ihren Namen in der Welt bekannt gemacht haben. Tochter des Prager Professors für Zahnchirurgie Jan Jesenský, eines Dandies und Idols der Prager oberen Zehntausend. Mit dreizehn verlor sie ihre Mutter. Ihre Schulbildung erhielt sie am ersten tschechischen Privatgymnasium Minerva, aus dem die ersten emanzipierten Mädchen, einen neuen, freigeistigen Lebensstil propagierende Intellektuelle hervorgegangen sind. Ungeordnete Familienverhältnisse und die emanzipierten Ansichten des tschechisch-deutschen intellektuellen Prags führten das vitale, energische, leichtsinnige und risikofreudige Mädchen in die gesellschaftsfeindliche Revolte.
Ihr ungezügeltes Benehmen sowie verschiedene moralische Fehltritte hatten zur Folge, dass sie 1917 auf Anweisung ihres Vaters wegen „moral insanity“ für neun Monate in der Nervenheilanstalt in Veleslavín interniert wurde. Zu jener Zeit unterhielt sie bereits ein Verhältnis mit dem literarisch und musikalisch gebildeten, zehn Jahre älteren Bankbeamten Ernst (Arnošt) Pollak (Polák), aus Jičín gebürtig, das mit ihrer Volljährigkeit im Alter von 21 Jahren mit Heirat und Übersiedlung der Jungvermählten nach Wien endete. Ernst Pollak, bekannt als der „Kenner“ Pollak, gehörte zur Gesellschaft um Franz Werfel im Prager Kaffeehaus Arco, wo auch Kafka gelegentlich vorbeischaute. Wahrscheinlich dort hat Kafka Milena zum ersten Mal erblickt, ohne dass sie einander vorgestellt wurden. In Wien dominierte Pollak am Stammtisch im Kaffeehaus Herrenhof, wo ihn sogar führende österreichische Literaten wie z. B. Hermann Broch um Rat und Hilfe angingen. Dort warb Pollak auch für das Werk des kaum bekannten Prager Schriftstellers Franz Kafka. Er war es, der Milena Jesenská auf Kafka aufmerksam machte. Diese beherrschte die deutsche Sprache schon so weit, dass sie sich daran wagte, kürzere auf Deutsch verfasste Texte ins Tschechische zu übertragen, ebenso nichtdeutsche Autoren aus deutschen Übersetzungen. Sie versandte ihre Übersetzungen an tschechische Zeitungen und Zeitschriften, in deren Redaktionen sie eine Reihe von Freunden hatte. Kafka mit seinem Heizer war nicht der erste Autor, an den sie sich gewagt hatte. Ihrer Gepflogenheit entsprechend, nahm sie im Lauf der Übersetzungsarbeit brieflichen Kontakt mit ihm auf, aus dem sich ein wahrer „Briefroman“ entwickeln sollte. Auch in der Beziehung mit Milena strebte Kafka eine Ehe an. Zwischen dem norditalienischen Meran, wo er sich von seiner Krankheit erholte, und Wien, wo Milena in einer nicht sonderlich glücklichen Ehe lebte, waren 1920 drei Monaten lang über 30 Briefe unterwegs. Zweimal kam es zu einer physischen Begegnung. Die erste in Wien verlief glücklich und verheißungsvoll, die zweite in der Grenzstadt Gmünd endete mit Kafkas Versagen und führte den Bruch in ihrer Beziehung herbei. Zum einen herrschte hier eine starke Differenz zwischen zwei verschiedenen Temperamenten, zum andern war Milena nicht gewillt, Ernst Pollak, den sie ungeachtet aller Eheprobleme liebte, zu verlassen. Die Beziehung Kafkas zu Milena endete wie die beiden vorigen. Auf Kafkas Seite hatte sie in den Briefen an Milena ein hervorragendes Epistularwerk gezeitigt, auf Milenas Seite die ersten Übersetzungen von Kafka-Werken in eine Fremdsprache überhaupt. Milena führte als Journalistin ein buntes Leben an der Seite mehrerer bemerkenswerter Männer, ging vielen Aktivitäten nach und durchlief manchen Gesinnungswandel. An der Neige ihres Lebens bewies sie mit ihrer Haltung und ihrer Feder Mut und Tapferkeit im Kampf gegen die faschistische Gewalt, der 1944 mit ihrem Tod im KZ Ravensbrück endete.