Frühe Kindheit

Franz Kafkas Familie ist während seiner ersten sechs Lebensjahre fünfmal umgezogen, und so war ihm nie die Zeit vergönnt, in der Mikrowelt seiner nächsten Umgebung richtig heimisch zu werden. Franz kam als erstes von sechs Kindern am 3. Juli 1883 im Haus Nr. I/27 auf der Ecke Karpfen- und Maiselgasse im innersten Zentrum der Prager Altstadt unmittelbar an der Grenze zum damaligen Judenviertel zur Welt. Das erste Mal zog die Familie während der zweiten Schwangerschaft der Mutter um, als Franz noch keine zwei Jahre alt war.

© Archiv Klaus Wagenbach, Berlín
Der zweite Sohn Georg wurde am 11.9.1885 im Haus Nr. 56 auf dem Wenzelsplatz auf Höhe der heutigen Gasse Ve smečkách in einem heute nicht mehr existierenden Haus geboren, doch schon im Dezember desselben Jahres zog die Familie in das Gebiet des ehemaligen Ghettos in die Geistgasse Nr. 187 zurück; auch dieses Haus steht heute nicht mehr. Dort ist Georg Ende 1886 gestorben. Am 27.9.1887 erblickte hier ein weiterer Sohn, Heinrich, das Licht der Welt. Bereits gegen Jahresende zog die Familie in die nahe gelegene Niklasgasse Nr. 6 um, wo auch der fünf Monate alte Heinrich starb. 1888 siedelte die Kafka-Familie in die Zeltnergasse Nr. 2 über und blieb dort auch nur ein knappes Jahr. Im Juni 1889, während der vierten Schwangerschaft der Mutter, zogen die Kafkas in das heute noch erhaltene Renaissancehaus Zur Minute auf dem Altstädter Ring, wo sie ganze sieben Jahre blieben und von wo aus der kleine Franz auf seinen ersten Schulweg gebracht wurde. In diesem Haus sind innerhalb von drei Jahren Kafkas drei Schwestern zur Welt gekommen – Gabrielle (Elli, 1889), Valerie (Valli, 1890) und Ottilie (Ottla, 1892). Die zahlreichen Wohnungswechsel, bedingt durch familieninterne Gründe, den Bedarf nach mehr Komfort sowie durch den allmählichen wirtschaftlichen Aufstieg, spielten sich bis auf eine Ausnahme auf der kleinen Fläche eines knappen Quadratkilometers ab. Dabei haben sicherlich auch die Nähe von Hermann Kafkas Geschäft, die Bindung an Orte, wo Hermann und Julie in Prag Fuß gefasst hatten, sowie die Treue zur örtlichen Kundschaft eine Rolle gespielt.
Franz Kafka verbrachte seine Kindertage größtenteils einsam, umgeben von einem tschechisch und deutsch sprechenden Personal – dem Kinderfräulein, der Köchin und einem Dienstmädchen. Das Kindheitserlebnis wurde für ihn zu einem lebenslangen Trauma: Er litt darunter, sich selbst überlassen zu sein, Nestwärme und Gefühlsbindung an die Eltern entbehren zu müssen, da diese von früh bis spät im Geschäft tätig waren. So sah er sie eigentlich nur abends, wenn sie ausspannen wollten und sich meistens im Nebenzimmer beim Kartenspiel vergnügten. Die väterliche Erziehung war schroff und autoritär, beschränkte sich auf Befehle, Ermahnungen oder Verbote und spielte sich hauptsächlich während der gemeinsamen Mahlzeiten bei Tisch ab. Der Vater, bewundert und gefürchtet, erschien dem Kind als Herrscher über alles. Diese Vorstellung sollte Kafka sein ganzes Leben nicht loswerden. Die Mutter, feinfühlig und gerecht, verfügte nicht über die notwendige Kraft, dem energischen Vater entgegenzutreten und schlug sich meist, wenn auch ungern, auf dessen Seite. In dieser Situation verschloss sich der Knabe allmählich vor der Außenwelt und schuf sich eine eigene Welt, in der Menschen, Dinge und seine Beziehungen zu ihnen von seiner unkindlichen, freudlosen Phantasie umgestaltet wurden. Ein überscharfes Bild seiner Kinderwelt lieferte Kafka in seinem Brief an den Vater, der jedoch nie seinen Adressaten gefunden hat.
© Archiv Klaus Wagenbach, Berlín
Kafkas Beziehung zum Vater bestand von Kindheit an aus einer komplizierten Mischung aus Bewunderung und Ablehnung, die sich von Missbilligung bis hin zu Verurteilung steigern sollte. Die väterliche Entschlossenheit, Selbstsicherheit und vor allem Ironie deprimierten Franz und weckten in ihm ein Gefühl eigener Ohnmacht und Nichtigkeit.
Kafka litt unter des Vaters Überheblichkeit, seinem mangelnden Sinn für seine Umgebung, seinem schroffen Verhältnis zu Verwandten, Angestellten und ganzen ethnischen Gruppen: zu den Tschechen, Deutschen und Juden. Dabei wusste er des Vaters Fähigkeiten und gute Eigenschaften zu schätzen und hegte die Überzeugung, der Vater sei in seinem Kern ein guter Mensch. An manchen Folgen der väterlichen Erziehung trug Franz von früher Kindheit an für sein ganzes Leben.
Die Mutter Julie umgab den Sohn mit grenzenloser Liebe und suchte nach Kräften, die Auswirkungen von des Vaters aufbrausendem, jähzornigem Wesen und deren erzieherischen Folgen für das Kind erträglicher zu machen. In dieser Mittlerrolle mußte sie scheitern; sie war zu schwach, um des Vaters Einfluss spürbar zu mildern.
Belege für konkrete Demütigungen, die er in früher Kindheit erlitten hatte, sind in Kafkas Werk kaum zu finden; wo er sie dem Papier anvertraut hat, ist sein Vater Hermann die Hauptperson.